Blindflug


The sun arises but you can't see
There is no touch that makes you feel
You live your life inside an awful dream
You locked the door and lost the key

True life begins behind the borders
That exist inside your head
You will never reach deep waters
If you do not change yourself

Are you afraid to lose your shelter
Are you afraid to lose your strength
But things can only turn out better
When your dream comes to an end

(aus: Lights Of Euphoria - "True Life", VNV Nation Remix)



Eos fand die Hausnummer, die sie gesucht hatte, ein Gebäude abseits vom Gewerbegebiet, ein niedriger Flachbau mit heruntergelassenen Rolläden aus Aluminium. Die Klingel befand sich neben einer Flügeltür aus Rauhglas, in dem sich das erste Tageslicht brach. Der Türrahmen schimmerte blass. Eos hörte nichts, als sie die Klingel drückte; es schien innerhalb des Hauses zu läuten, vielleicht in einem der unteren Stockwerke, von denen Sazar gesprochen hatte. Der Summer ertönte. Während Eos das Gebäude betrat, fiel ihr eine Kamera auf, die über dem Eingangsbereich angebracht war und ihren Schritten folgte.
Eos wurde im dritten Untergeschoß erwartet. Als sich die Aufzugtüren öffneten, kam Eos in einen Flur mit hohen dunkelgrauen Betonwänden, erhellt von dem schwachen Licht der Leuchtstoffröhren, die an Stahlseilen unter der Decke hingen. Der Flur war lang und gerade, sein Ende versank in der Ferne im Dunkel. Es gab viele Türen aus silbrigem Stahl mit schweren Kunststoffklinken. Neben ihnen waren Schilder aus Glas an die Wand geschraubt, die beschriftet waren mit Zeichenfolgen. Der Flur hatte in größeren Abständen flache Nischen, und endlich kam Eos an eine, die führte unter einem Träger hindurch in einen anderen Flur, mit schräg verlaufenden Wänden; dort gab es mehrere Lastenaufzüge. Dieser Flur öffnete sich in eine Halle, die erstreckte sich so weit, daß Eos ihre Rückwand nicht sehen konnte. Die Halle war nur an wenigen Stellen beleuchtet. In den Fluren war der Boden aus Stein, in der Halle jedoch war Teppichboden verlegt, eine schier endlose Fläche, matt schimmernd in einem sehr kalten Blau. Eos ging über dieses Meer aus blauem Teppichboden und suchte nach einem Schild, von dem man ihr gesagt hatte, daß sie es hier finden würde.
"Eos!" hörte sie jemanden rufen. "Eos!"
Sie ging der Stimme nach und kam zu einer Betonwand. Dort hing ein Schild mit der Aufschrift "4c". Dieses hatte sie gesucht. Unter dem Schild war eine stählerne Flügeltür, die ließ sich öffnen. Eos kam in einen leeren Raum, weiß gestrichen, mit grauen Fliesen auf dem Boden. Der Raum war hell erleuchtet. Es gab eine einzige Tür, die weiterführte, und die stand offen. Eos ging dort hindurch und gelangte in eine Kaffeeküche, die war in Grau und Silber eingerichtet. Dort wirkte die Stimmung freundlicher und anheimelnder; dafür sorgte auch das wohnliche Licht der Halogenlämpchen, die an Stahlschnüren klemmten. Auf einem Barhocker saß ein Kahlgeschorener, der trug ein weites Hemd mit Stehkragen, das aus weißem Knitterstoff gemacht war. Die weite Hose war aus demselben Stoff.
"Ich bin Cato", sagte er. "Ich gehe jetzt weg. Ich weiß, daß Sazar gleich hier ist, um dich zu empfangen."
Als er fort war, setzte Eos sich auf Catos Barhocker. Sazar erschien, der Eos herbestellt hatte.
"Du bist Eos ...", nickte Sazar.
"Guten Tag, Sazar."
"Der Fügung sei Dank, daß du hier bist."
"Was freut dich so an mir?"
"Etwas ist geschehen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich glaube, wir können etwas schaffen, von dem ich dachte, es wäre unmöglich."
"Was ist es denn?"
"Wir arbeiten an einem Programm, und wenn du bei uns bist, kann das fertig werden."
Sazar führte Eos in den benachbarten Raum. Dort waren Computer und Monitore an den Wänden befestigt. Davor waren stählerne Tische auf dem Boden festgeschraubt, auf denen Tastaturen und Mäuse lagen. In hohen Regalschränken wurden Datenträger aufbewahrt. Eine Wand in dem Raum war aus Glas. Dahinter befand sich ein Lichtschacht. Graues Tageslicht rieselte über die Schachtwände aus grobem Beton.
"Du wirst einen Kollegen haben, der überzeugt ist, daß wir ihn hier nicht wollen", erzählte Sazar. "Er arbeitet seit zehn Jahren für uns, und es wäre nicht auszudenken, was wir ohne ihn tun sollten."
"Warum glaubt er, daß ihr ihn nicht wollt?"
"Das herauszufinden - das wird eine deiner Aufgaben sein, Eos. Wir befürchten, daß unser Kollege Cato uns verlassen wird, weil er glaubt, dadurch einer Kündigung zuvorzukommen. Wir wollen unbedingt verhindern, daß er geht. Nun weißt du, daß deine Arbeit nicht nur am Computer stattfindet."

-   -   -


"Ich glaube, ich weiß jetzt, warum Catos Argwohn gegen euch immer größer wird", sagte Eos, als sie einige Wochen später mit Sazar in der Kaffeeküche saß. "Er hängt immer mehr an dieser Einheit und an den Kollegen, die er hier hat. Und je mehr seine Arbeit ihm bedeutet, desto größer wird seine Angst, sie zu verlieren. Und je größer seine Angst wird, desto mißtrauischer und argwöhnischer wird er. Es wird immer schwerer, ihm zu vermitteln, daß er euch wichtig ist und daß ihr ihn braucht, weil er immer weniger Bereitschaft hat, darauf zu vertrauen."
"Das ist seltsam", meinte Sazar nachdenklich. "Ich hänge auch sehr an dieser Arbeit, aber ich habe gar keine Angst, daß mein Chef mich nicht mehr will."
"Die Ursachen für Catos Angst liegen wahrscheinlich tiefer und haben mit dir und der Einheit nichts zu tun."
"Hast du mit Cato über Angst gesprochen?"
"Ich habe gesagt, daß es Themen gibt, die mich beschäftigen, und ich wollte hören, was ihm dazu einfällt. Und ich habe ihn gefragt, was ihm zu dem Wort 'Angst' einfällt."
"Was hat Cato geantwortet?"
"Er hat gesagt, daß es Wörter gibt, die verwirrend sind, wenn man versucht, ihre Bedeutung zu ergründen. Und dieser Verwirrung wollte er sich nicht aussetzen."
Cato kam in die Kaffeeküche und öffnete eine Dose Kondensmilch mit Hilfe seines Taschenmessers. Das aufgeklappte Messer fiel ihm aus der Hand. Eos hob es auf und klappte es wieder zu. Sie reichte es Cato, der es einsteckte.
"Heute bist du noch weißer als sonst", sagte Cato zu Eos. "Du bist entfärbt. Was ist mit dir?"
"Ich muß gestehen, daß ich mir Sorgen um dich mache."
"Um mich braucht sich keiner Sorgen zu machen."
"Doch, ich tue es, Cato."
"Und warum?"
"Angst kostet Kraft, und du hast jeden Tag Angst, und das hältst du nicht für immer aus."
"Wovor soll ich deiner Meinung nach Angst haben?"
"Davor, daß du 'rausgeworfen wirst."
"Warum sollte ich denn 'rausgeworfen werden?"
"Niemand will dich 'rauswerfen, aber ich glaube, du hast trotzdem Angst davor."
"Angst - wenn es keinen Grund dafür gibt? Das ist doch Unsinn."
Cato goß sich Kaffee ein und trank ihn hastig.






"Was guckt ihr mich so an?" fragte er Sazar und Eos. "Was unterstellt ihr mir?"
"Wir haben über dich geredet", erzählte Sazar.
"Jetzt weiß ich bescheid", sagte Cato mit einem Blick voller Abscheu. "Eos, du bist eine Verräterin. Ich habe geglaubt, mit dir kann ich reden. Aber du hast alles, was ich dir gesagt habe, an Sazar weitergetragen, alles, alles. Und auf die Weise hast du meine Zukunft zerstört. Ich will euch nicht mehr sehen, nie mehr."
"Cato, bitte geh' nicht weg", sagte Sazar.
"Das Programm ist fertig", erwiderte Cato. "Ihr braucht mich nicht mehr."
"Wir wollen dich nicht verlieren", sagte Sazar.
Eos dachte an das Messer, als sie sah, wie Cato die Kaffeeküche verließ und hinausrannte in die Halle mit dem blauen Teppichboden. Sie lief hinterher und wußte, daß sie ihn nicht einholen konnte. Cato schien in dem blauen Meer versunken zu sein, untergegangen in einem Schattenfeld.
"Eos!" rief jemand. "Eos!"
Es kam aus dem hinteren Bereich der Halle. Eos wußte, daß die Halle sehr weitläufig war; es erstaunte sie aber doch, wie lange es dauerte, bis sie die Rückwand erreichte. Im Halbdunkel sah sie Cato vor der Betonmauer stehen. Neben ihm standen sein Kollege Hailo und ein Fremder. Der Fremde trug einen Mantel aus grauem Kunststoff und schien eben von draußen gekommen zu sein.
"Du bist Eos, das hat mir Hailo gesagt", begrüßte sie der Fremde. "Ich bin Daro."
"Hallo Daro", sagte Eos. "Cato, wo willst du hin?"
Cato antwortete nicht.
"Eos, wie lange arbeitest du schon hier?" erkundigte sich Daro.
"Seit ungefähr zwei Monaten", gab sie Auskunft.
"Verdienst du hier gut?" fragte Daro weiter.
"Oh ja, das muß man wirklich sagen."
"Wie geht es dir denn hier?"
"Ich fühle mich, als hätte ich schon immer hierher gehört."
"Wie kommt das?"
"Es liegt vielleicht an meiner Aufgabe."
"Der Aufgabe, mich zu verraten", durchbrach Cato die Unterhaltung von Eos und Daro.
"Wie hat sie dich verraten?" fragte Daro.
"Sie hat mich ausgehorcht, um mich bei Sazar schlecht machen zu können", erzählte Cato. "Sie hat mein Vertrauen erschlichen, um mich vernichten zu können."
"Warum wollte Eos dich vernichten?"
"Das war doch Sazars Auftrag, dafür hat sie doch das viele Geld bekommen."
"Warum will Sazar dich vernichten?"
"Er haßt mich", war Cato sicher. "Es macht ihm Freude, mir zu schaden."
"Woran merkst du, daß er dich haßt?"
"Er schickt mir solche Leute wie Eos. Glaub' doch nicht, daß ich nicht längst gemerkt habe, wozu sie da ist."
"Sazar haßt dich nicht", sagte Eos.
"Ja, er haßt mich", fiel Cato ihr ins Wort.
"Sazar haßt dich nicht", sagte Eos.
"Richtig, er haßt mich", fiel Cato ihr ins Wort.
"Hör' dir diesen Satz zuende an", bat Eos.
"Verdreh' doch nicht die Wirklichkeit", fiel Cato ihr ins Wort. "Du weißt, wie es ist; nun belüg' mich nicht noch weiter."
"Ich belüge dich nicht."
"Du lügst, wenn du den Mund aufmachst", fiel Cato ihr ins Wort.
"Daro, Hailo, das Messer ...", sagte Eos.
"Halt' den Mund", rief Cato.
"Er hat ein Messer ...", fuhr Eos fort.
"Halt' den Mund, oder ich vergesse mich", rief Cato.
"Nehmt es ihm weg", bat Eos.
"Ich weiß nicht, was ihr wollt", sagte Cato. "Ich tue euch nichts."
"Sicher nicht", meinte Daro, "aber du solltest es uns wirklich geben."
"Dafür gibt es keinen Grund", entgegnete Cato.
"Eos hat sich nicht um sich selbst gesorgt, sondern um dich", vermutete Daro.
"Warum sollte sie sich meinetwegen Sorgen machen?" fragte Cato.
"Ich denke, sie hat Grund dazu", sagte Daro. "Dir scheint es gar nicht gut zu gehen."
"Mir geht es immer gut", behauptete Cato.
Daro schob eine Stahlplatte in der Betonwand zur Seite. Auf einer Tastatur, die nun sichtbar wurde, tippte er eine Nummer. Ein Lamellentor fuhr langsam hoch.
"Es wird Zeit, daß ihr verschwindet", sagte Cato. "Ich habe nichts mehr zu verlieren, und ihr habt an mir auch nichts mehr zu verlieren."
"Du mußt nichts tun", sagte Daro, "aber wir müssen etwas tun."
"Was willst du damit sagen?"
"Es geht um unseren Auftrag, den Auftrag von Eos und mir."
"Was hast du damit eigentlich zu tun, Daro?" fragte Cato. "Was bringt dich überhaupt hierher?"
Durch das Lamellentor fiel ein schwacher Lichtschein in die Halle.
"Was denkst du?" fragte Daro.
"Irgendwie sollt ihr mich fertigmachen", meinte Cato. "Hat jemand eine Zigarette für mich? Ich habe sie im Schrank vergessen."
"Weißt du, was hinter dem Lamellentor ist?" fragte Daro.
"Deine Zigaretten", vermutete Cato. "Das ist schön, daß du mir eine leihst."
Er ging durch das Lamellentor. Daro, Eos und Hailo folgten ihm.
"He, was wollt ihr denn hier?" fragte Cato. "Ich will doch nur eine Zigarette holen. Ach, Daro, wo ist denn hier der Lichtschacht, daß man 'rausgehen kann und rauchen?"






In dem Raum stand eine Reihe von Spinden. In der Mitte stand ein leerer Tisch.
"Daro, wo hast du denn deine Zigaretten?" fragte Cato.
Daro tippte auf einer Tastatur drinnen neben dem Lamellentor eine Nummer, und das Tor schloß sich langsam. Durch eine Tür kamen zwei Männer in den Raum, die die gleichen Mäntel trugen wie Daro. Cato drehte sich zur Wand und griff in seine Hosentasche.
"Daro", rief Eos, "Daro ... nehmt es ihm weg, ich bitte euch, nehmt es ihm weg ..."
Sie stellte sich in eine Ecke und verbarg ihr Gesicht in den Händen, als die Männer mit Cato um das Taschenmesser rangen.
"Eos, du Verräterin", rief Cato. "Erwürgen hätte ich dich sollen."
Eos spürte, wie ein leichter Gegenstand ihre Hand streifte. Vor sich fand sie das aufgeklappte Messer auf dem Steinboden. Es hatte sie berührt, aber nicht verletzt. Eos sah Cato auf dem Tisch liegen, die Männer standen bei ihm. Als Eos sich dem Tisch näherte, schien Cato durch sie hindurchzublicken. Eos blieb vor ihm stehen und schaute ihn unverwandt an.
"Du kannst es sowieso nicht verhindern", sagte Cato schließlich. "Du kannst mich einsperren lassen, wenn du willst, aber verhindern kannst du es nicht."
"Nein, das kann ich nicht", bestätigte Eos. "Aber warum willst du sterben?"
"Weil ich dir nie wieder begegnen will."
"Was empfindest du, wenn du mich siehst?"
"Haß. Grenzenlosen Haß."
"Bin ich dir das denn wert, meinetwegen zu sterben?"
"Daß ich dich nicht mehr sehen muß, ist es mir wert."
Eos holte das aufgeklappte Messer, ergriff Catos Hand und wollte es hineinlegen.
"Was soll das jetzt wieder?" wehrte Cato sie ab.
"Cato, ich bitte dich, das zu tun, was du eben tun wolltest", sagte Eos. "Ich werde dir zuschauen."
"Das ist nur wieder eine von deinen Methoden. Du machst dich lächerlich."
"Es geht darum, daß du weißt, wie es sich anfühlt", erklärte Eos.
"Das weiß ich doch schon", entgegnete Cato.
Eos klappte das Messer zu und gab es Hailo.
"Cato, ich will sehen, wo du dich geschnitten hast", sagte Eos.
Cato verbarg Hände und Arme.
"Es geht um das ganze Leben, das für einen Menschen zuende sein kann", sagte Eos. "Bitte zeigt mir seine Arme."
Die Männer schafften es mit einiger Mühe.
"Wolltest du jedesmal sterben?" fragte Eos.
"Das geht dich nichts an", erwiderte Cato.
"Wann hast du es zum ersten Mal versucht?"
"Das geht dich auch nichts an."






Eos machte eine Geste, und die Männer ließen von Cato ab.
"Wenn du es jetzt wieder versucht hättest, während wir dabei waren, hätten wir genügend Zeit gehabt, um dich zu retten", bemerkte Eos. "Du hättest dich nicht umbringen können."
"Ich hätte mir in den Hals gestochen, dann hättet ihr gar nichts mehr tun können."
"Woher kommt dieser Haß gegen dich selbst?"
"Du verdrehst doch alles, was ich sage. Wenn ich jemanden hasse, bist du das."
"Willst du weiterleben, wenn du dadurch die Möglichkeit hast, dich an mir zu rächen?"
"Ach, so stellst du dir unseren Deal vor", deutete Cato. "Ich soll mich nicht umbringen, und dafür kann ich dir antun, was ich will."
"Was du darfst, was dein Recht ist und woran dich niemand hindern kann, das alles kannst du tun, wenn du am Leben bleibst."
"Ach, und ich muß herausfinden, womit ich dich verletzen kann, ohne ein Messer nach dir zu werfen."
"Das ist nicht schwer, Cato."
"Also, jetzt muß ich mal überlegen. Warum ist das nicht schwer?"
"Ich will dir überlassen, das herauszufinden."
"Ich habe keine Lust, mich an dir zu rächen. Der Deal wird nichts."
"Dann schlag' einen anderen vor."
"Dazu habe ich auch keine Lust."
"Was willst du tun?"
"Da ich durch dich meine Arbeit verloren habe ..."
"Das hast du nicht, Cato."
"Das weißt du, weil du Sazar bist. Das weißt du, weil Sazar nichts dagegen hat, wenn ich ein Messer nach dir werfe."
"Ich werde Sazar anrufen."
Eos wählte Sazars Nummer, meldete sich und gab ihr Handy an Daro weiter. Daro ging mit dem Handy in den Nebenraum und schloß die Tür.






"Du siehst, du hast erreicht, was du wolltest", sagte Cato.
"Weißt du, was ich will?" fragte Eos.
"Daß ich 'rausgeworfen werde", war Cato sicher. "Du willst mich vernichten."
"Nein, ich will, daß du am Leben bleibst und daß du lernst, jemandem zu vertrauen."
"Du hast mir eben vorgeführt, daß man jemandem wie dir ganz bestimmt nicht vertrauen sollte."
Daro kam zurück und gab Eos ihr Handy.
"Alles ist in Ordnung", sagte Daro.
"In Ordnung für euch", sagte Cato.
"Und für dich", sagte Daro.
Cato setzte sich auf und betrachtete die Menschen, die um ihn herumstanden.
"Ihr alle wißt, daß ich 'rausgeworfen werde", meinte Cato. "Es gibt nur eines, was ich tun kann. Und das will ich tun."
"Dann gebe ich dir wieder das Messer", sagte Eos. "Dann machst du es hier, so daß wir es sehen."
Hailo suchte das Messer hervor und klappte es auf, Daro schloß Catos Hand um den Griff.
"Was soll das?" fragte Cato.
"Mach' jetzt, was du vorhast", verlangte Eos.
"Ihr macht euch lächerlich", sagte Cato.
"Was hält dich zurück?" fragte Eos.
"Ihr sollt aufhören, euch lächerlich zu machen", sagte Cato.
"Du kannst es doch jetzt tun", meinte Eos. "Warum tust du es nicht?"
"Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß ihr mich nicht daran hindert."
"Dann machen wir noch etwas anderes, Cato. Wir werden alle diesen Raum verlassen. Du wirst durch keine der Türen hinausgehen können. Wir verschließen sie. Wann wir zurückkommen, sagen wir nicht. Du hast nun die Möglichkeit, dich umzubringen, ohne daß wir dich daran hindern."
"Ihr habt Kameras."
"Nicht in diesem Raum. Du wirst nicht überwacht. Du kannst wirklich tun, was du willst."
Eos ging mit den anderen in den Nebenraum. Sie tranken dort Kaffee, den man an einem Automaten ziehen konnte. Nach einer Viertelstunde bat Eos Daro, die Durchgangstür umzuschalten, so daß sie wieder geöffnet werden konnte. Eos fand Cato noch immer auf dem Tisch sitzend; das Messer sah sie nicht mehr.






"Cato, du hast es nicht getan", sagte Eos. "Du hättest es tun können, und du hast es nicht getan. Was hat dich zurückgehalten?"
Cato schwieg.
"Was war es, Cato?"
Sie stand vor ihm, allein mit ihm, und wartete und fragte noch einmal:
"Was hat dich zurückgehalten?"
"Vielleicht sollte ich es anders machen, nicht mit dem Messer."
"Wir geben dir jede Möglichkeit, die du haben willst."
"Nein, nicht mehr sowas. Nicht mehr so ein albernes Spiel."
"Wir hören auf, wenn du mir sagst, was dich vom Selbstmord abhält."
"Was willst du noch? Ich habe alles verloren, was willst du noch?"
"Du hast nichts verloren, Cato."
"Alles. Alles habe ich verloren."
"Sazar hat eben gesagt, daß du nichts verloren hast."
"Eben, ja. Und morgen wird er mich 'rauswerfen."
"Er wird dich auch morgen nicht 'rauswerfen."
"Dann eben nicht morgen, sondern später. Eines Tages, wenn ich nicht damit rechne, nebenbei, wirft er mich 'raus."
"Das tut er nicht."
"Warum glaubst du, Sazar besser zu kennen als ich? Du bist erst seit ein paar Wochen hier. Ich bin seit zehn Jahren hier."
"Und du hast seit zehn Jahren Angst."
"Die ist berechtigt. Du siehst doch, er wirft mich 'raus."
"Cato, ich arbeite seit zehn Jahren befristet, nie habe ich Sicherheit kennengelernt, ich konnte nie sagen, daß ich irgendwo hingehöre. Und doch habe ich so etwas wie Vertrauen in mein Schicksal, einen Rest von Vertrauen, daß ich nicht untergehen werde, daß es etwas gibt, das mich nicht untergehen läßt, daß es eine Bestimmung für mich gibt, der ich folgen muß, eine Aufgabe, um derentwillen ich in dieser Welt bin. Cato, wovor hast du wirklich Angst?"
"Ich verstehe nicht, was du meinst."
"Die Angst, die du hast, die kommt nicht durch Sazar. Die gab es schon vorher. Und was für eine Angst das ist, das will ich wissen."
"Sag' mal Daro, er soll dieses Lamellentor hochfahren."
Eos rief Daro herbei. Er öffnete das Tor. Eos ging mit Cato in die halbdunkle, unendlich scheinende Halle mit dem blauen Teppichboden. Säulen stützten die Decke. Hinter einer der Säulen, weit draußen in einem Schattenfeld, setzte Cato sich nieder. Ein Stück entfernt legte Eos sich auf den Teppichboden und betrachtete Cato.
"Ich habe ein Messer, ich habe es sogar nach dir geworfen, und du fürchtest dich nicht?" fragte er.
"Nein."
"Ich bin unbeherrscht und gefährlich."
"Nein."
"Ist das wieder ein Trick?"
"Was?"
"Du fürchtest dich deshalb nicht, weil ... hier überall Kameras sind und gleich lauter Leute angelaufen kommen ..."
"Wenn ich dir sage, daß hier keine Kameras sind, glaubst du mir sowieso nicht."
"Du sollst mich nicht dauernd angucken."
Sie schloß die Augen.
"Wieso vertraust du mir?" fragte Cato.
"Das Vertrauen beruht nicht auf einem Wissen, sondern auf einem Gefühl."
"Erzähl' du bitte nichts von Gefühlen, Eos. Du hast keine."
"Vielleicht ist es für dich beruhigend, neben jemandem in dieser Halle zu sitzen, der keine Gefühle hat."
"Du gibst zu, daß du keine hast. Das ist gut."
Eos lag schweigend da, mit geschlossenen Augen.
"He, nicht einschlafen", sagte Cato nach einer Weile.
"Ich warte nur", erklärte Eos.
"Worauf wartest du?"
"Zwei Fragen habe ich dir gestellt, und ich warte auf die Antworten."
"Und du glaubst, daß du die von mir kriegst."
"Ich hoffe, daß ich sie kriege."
"Was waren das nochmal für Fragen?"
"Die erste war: 'Was hat dich vom Selbstmord abgehalten?'"
"Die Antwort kriegst du schon mal nicht. Und die andere Frage?"
"Die war: 'Wovor hast du wirklich Angst?'"
"Angst habe ich vor dir, weil du falsch und berechnend bist."
"Das ist aber nicht die Antwort, weil du schon Angst hattest, bevor du mich kanntest."
"Und das weißt du ganz genau."
"Ja."
"Und du hältst dich auch nicht für anmaßend, weil du mir Sachen unterstellst, die du gar nicht wissen kannst."
"Ich bin mir sicher, Cato. Ich bin mir ganz sicher."
"Und was macht dich so sicher?"
"Was macht dich so sicher, daß ich keine Gefühle habe?"
"Erstens ist das leicht zu erkennen, und zweitens beantwortest du mir jetzt meine Frage."
"Ich habe dich kennengelernt, Cato, und ..."
"Also?" fiel er ihr ins Wort.
"... und du hast eine Verzweiflung in dir, das ..."
"Du sollst nicht von etwas reden, wovon du nichts verstehst", fiel er ihr ins Wort.
"... das hat mich so traurig gemacht, unendlich ..."
"Was habe ich eben gesagt?" fiel er ihr ins Wort.
"... unendlich traurig; ich weiß nicht, ob ich jemals ..."
"Hör' endlich auf, von Gefühlen zu reden", fiel er ihr ins Wort.
"... so eine Trauer gefühlt habe, das ist ein Ozean ..."
Cato stand auf und ging weg. Eos rührte sich nicht und hielt ihre Augen geschlossen. Wie gebannt lag sie, wo sie war, bis Catos Schritte sich wieder näherten.
"Laß' deine Augen zu", sagte Cato. "Dort hinten ist ein Abgrund, in den werfe ich dich, und dann wollen wir sehen, ob du mir noch vertraust."
Er trug Eos über den Teppichboden, weiter und immer weiter.
"Jetzt lasse ich dich fallen", sagte er, als er stehenblieb.
Sie rührte sich nicht und öffnete ihre Augen nicht.
"Berechnend", sagte Cato und setzte Eos neben sich. "Du wußtest, daß ich dich nicht fallenlasse. Du weißt immer alles vorher. Sowas wie dich müßte man mit einem Gefahrgut-Transporter entsorgen. Los, guck' dir den Abgrund an."
Sie saßen unter einem Geländer. Cato hielt Eos, nur eben so fest, daß sie nicht in den viele Stockwerke tiefen Abgrund fallen konnte, der sich vor ihnen auftat.
"Du bist nicht gesprungen", sagte Eos.
"Jetzt hörst du auf, mir Fragen zu stellen", verlangte Cato.
Eos nickte.
"Nein, ich bringe mich nicht um", versprach Cato, "damit du keinen Aufstand mehr machst. Zumindest ... heute nicht."

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