Nachthimmel

"Ein heller Stern am Firmament", schwärmte Cincere. "Er zeigt uns allen den Weg. Er löste mir die Zunge und läßt mich Worte sprechen, deren ich ohne ihn nie mächtig gewesen wäre."
"Hast du das irgendwo gelesen?" fragte Dina.
"Das ist ein Zitat", nickte Cincere. "Das ist aus meinem Poesiealbum."
"Und wer ist der helle Stern am Firmament?"
"Das ist Cato", sagte Cincere, "der Eine, der Einzige, und er hat sich erniedrigt, mich zu lieben, mich ..."
"Wieso muß man sich dafür erniedrigen?"
"Weißt du denn gar nicht, wer Cato ist?"
"Das ist doch einer, den kennt mein Freund noch aus der Schule. Was soll mit dem sein?"
"Der steht doch so über allem, der ist doch höher als wir alle."
"Wie muß ich mir das denn vorstellen?"
"Der ist einfach ... überlegen."
"Wem ist der denn überlegen?"
"Der ist allen überlegen. An den kommt keiner 'ran. Der überragt alle."
"Wie? Mein Freund ist eins-achtzig, und so groß ist Cato nicht."
"Ich rede hier von geistiger Überlegenheit, falls du's nicht begriffen hast."
"Und was ist das, geistige Überlegenheit?"
"Man merkt echt, du merkst es irgendwie nicht."
"Also, wenn Cato anderen Leuten wirklich voraus ist, dann im Betrügen seiner Freundinnen."
"Cato liebt mich!"
"Dich hat er auch betrogen."
"Er hat es bereut!" rief Cincere. "Er hat mir eine Kiste Champagner geschenkt und einen Ring mit Brillanten, dafür hat der echt sein letztes Geld ausgegeben, alles, was er noch hatte!"
"Und wovon lebt er jetzt?"
"Du kapierst echt gar nichts."
"Wie ich gehört habe, wird er von Inverna unterstützt ..."
"Mit Inverna hat er nichts mehr zu tun."
"Woher willst du das denn wissen?"
"Das hat er mir hoch und heilig versprochen, mit Ehrenwort, und er hat mich auf Händen getragen, durchs Dorf hat er mich getragen, damit alle sehen, wir sind zusammen, und Inverna hat für ewig ihren Denkzettel!"
"Cato hat auch schon Gerüchte durchs Dorf getragen, und eines davon ist, daß er von dir nichts will, weil er immer noch Inverna liebt."
"Das erzählen nur die Leute, die neidisch auf mich sind. Ich bin die Auserwählte, nach der Cato immer gesucht hat, daran können die Leute auch nichts ändern mit ihrem Gerede."
"Die Hauptsache ist, daß du selber daran glaubst."
"Du willst meine Freundin sein, Dina, wie? Bist wohl auch neidisch, weil ich Cato habe und du nicht?"
"Wieso, ich hab' doch einen Freund. Und Leon ist mir treu, wenn ich mich nicht furchtbar irren sollte."
"Was ist denn schon Leon! Ein Versager, der hat nicht mal eine Ausbildung! Und der arbeitet auf der Müllkippe!"
"Leon arbeitet, mein Zuckermäuschen. Er arbeitet. Und dein Cato hat seit zehn Jahren keine Arbeit mehr angefaßt."
"Cato ist viel zu hochstehend, um für einen Hungerlohn zu schuften! Der arbeitet an Visionen für eine bessere Welt! Der opfert sich auf für uns alle!"
"Ich dachte, der hängt nur den ganzen Tag mit der Zigarette im Maul vor seinen Computerspielen."
"Cato arbeitet auf einer höheren Ebene! Davon verstehen solche armseligen Menschen wie du eben nichts."
"Da geb' ich dir recht", gestand Dina zu. "Was Catos Lebenswandel mit Arbeit zu tun hat, wird für mich wohl ein ewiges Geheimnis bleiben."
"Cato ist kein Loser wie Leon. Cato ist ein Mensch, der nach vorne sieht, bis weit in die Zukunft, so weit, daß wir uns das gar nicht mehr vorstellen können."
"Und was macht er in der Gegenwart?"
"Cato gehört eigentlich nicht in die Gegenwart. Er ist unserer Zeit weit voraus."
"Nun lebt er aber in der Gegenwart."
"Ja, er ist ein Geschenk aus der Zukunft, weil er uns Visionen zeigt aus einer Welt, die wir nie kennenlernen werden."
"Und was hast du davon?"
"Du bist echt sowas von beschränkt."
"Wenn er endgültig mit Inverna Schluß hat, kannst du ihn ja durchfüttern, deinen Visionär. Das dürfte für dich aber nicht so leicht werden mit deinem abgebrochenen Abitur."
"Das Abitur brauche ich nicht. Ich bin mit Cato zusammen, da muß ich mich keinen gesellschaftlichen Zwängen mehr unterordnen."
"Wovon wollt ihr denn leben?"
"Das laß' mal meine Sorge sein. Wir sind Künstler, wir stecken nicht im bürgerlichen Korsett."
"So, bist du jetzt Künstlerin geworden?"
"Ja, ich bin die Muse von Cato. Wenn das nicht viel mehr ist als dein Job als Friseuse!"
"Was verdient man denn so als Muse?"
"Das ist nicht in Geld zu messen. Das eine höhere Ebene. Aber davon hast du ja keine Ahnung."
"Cincy!" schrie Cato, der mit zwei Herren auf Barhockern an einem Tischchen saß. "Hol' uns mal Bier!"
Cincere trottete zur Theke und schleppte ein Tablett mit drei vollen Biergläsern zu dem Tischchen. Cato beugte sich zu ihr herunter, küßte sie und wandte sich wieder seinen Gesprächspartnern zu.
"Der hätte das Bier auch selber holen können", sagte Dina zu Cincere, als diese sich wieder zu ihr gesetzt hatte.
"Das verstehst du nicht", erwiderte Cincere. "Cato hat gerade etwas Wichtiges zu besprechen."
"Hat er eure Verlobung eigentlich schon öffentlich bekanntgegeben?"
"Das muß er doch nicht. Wichtig ist doch nur, daß wir uns lieben!"
"Cincy!" schrie Cato. "Hol' mal Zigaretten!"
"Wovon denn?" schrie Cincere.
"Kriegst du nachher wieder!" schrie Cato.
Cincere ging zum Zigarettenautomaten und brachte Cato das Gewünschte. Cato küßte Cincere und steckte ihr und sich eine Zigarette an.
"Ihr paßt wirklich gut zusammen", bemerkte Dina, als Cincere wieder neben ihr saß. "Ihr ergänzt euch wunderbar. Cato schreit und du springst."
"Ich bin für ihn da, das ist doch wichtig, wenn zwei sich lieben", erklärte Cincere. "Du würdest das doch auch tun für jemanden, den du liebst."
"Ich glaube, Leon würde es nicht wagen, mich so zu behandeln."
"Cato liebt mich", betonte Cincere. "Cato achtet mich. Aber du bist zu ignorant, um das zu merken."
Dina betrachtete Cincere, wie sie ihre Zigarette von einer Hand in die andere nahm.
"Die blauen Flecken an deinen Handgelenken sind mir noch gar nicht aufgefallen", wunderte sich Dina. "Was war das denn?"
"Man kann doch mal ... in der Tür steckenbleiben?"
"Sag' mal ... du hast mich doch seit drei Monaten so gut wie überhaupt nicht mehr angerufen."
"Da habe ich im Moment keine Zeit für, ich bin doch meistens bei Cato. Ich bin echt total glücklich mit ihm."
Cincere ging auf die Tanzfläche. Es war das erste Mal im Verlauf dieses Abends, daß sie tanzte.
"Cincy!" schrie Cato. "Aufbruch!"
Cincere nickte Dina zu und trottete zwei Schritt hinter Cato zum Ausgang.
"Es ist die Frage", schrieb Dina in ihr elektronisches Notizbuch, "ob es hier um einen Verlierer oder einen Verlorenen geht."











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